Kommunale Leistungsfähigkeit als Maßstab Europas – David McAllister im DEKOM-Interview
Der EU-Beitrittsprozess Bosnien und Herzegowinas verdeutlicht, dass funktionierende Verwaltungen und lokale Stabilität über den Erfolg europäischer Integration entscheiden. Kommunen in ganz Europa stehen vor ähnlichen Herausforderungen: funktionierende Verwaltungen, verlässliche Institutionen und das Vertrauen der Bürger in staatliches Handeln zu sichern. Genau darum geht es auch im Westbalkan – dort allerdings unter weit schwierigeren Bedingungen. Der EU-Beitrittsprozess Bosnien und Herzegowinas ist damit weit mehr als Außenpolitik: Er ist ein Lackmustest dafür, wie tief europäische Werte von Rechtsstaatlichkeit, Transparenz und lokaler Selbstverwaltung tatsächlich verankert sind. Zwei Jahre nach unserem letzten Gespräch bewertet David McAllister MdEP, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments, im zweiteiligen DEKOM-Interview den Stand der Dinge – und erklärt, warum der Fortschritt in Sarajevo auch für kommunale Akteure in der EU von Bedeutung ist. Im ersten Teil analysiert er die geopolitische Lage, den Stand der Reformen und die Glaubwürdigkeit der EU-Erweiterungspolitik.
DEKOM: Herr McAllister, fast zwei Jahre nach unserem letzten Gespräch haben Beobachter zunehmend den Eindruck, der EU-Beitrittsprozess Bosnien und Herzegowinas sei ins Stocken geraten. Die Beitritts-verhandlungen haben noch immer nicht begonnen. Täuscht dieser Eindruck, oder wird der Westbalkan tatsächlich von anderen geopolitischen Krisen überlagert – sei es der Krieg in Gaza, die anhaltende Ukraine-Krise, Handelskonflikte oder auch innenpolitische Entwicklungen in EU-Staaten wie der Wahlsieg europaskeptischer Kräfte in der Slowakei?
McAllister: Der Europäische Rat hat am 15. Dezember 2022 die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit Bosnien und Herzegowina beschlossen. Das war ein wichtiger Schritt, der die europäische Perspektive des Landes bestätigt.
Natürlich steht die Europäische Union derzeit vor einer Vielzahl geopolitischer Herausforderungen – von der anhaltenden russischen Aggression gegen die Ukraine über Spannungen im Nahen Osten bis hin zu handelspolitischen Konflikten. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Erweiterungspolitik allerdings wieder ganz oben auf die politische Agenda gerückt. Denn es zeigt sich, dass Stabilität, Rechtsstaatlichkeit und demokratische Strukturen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft eine Frage europäischer Sicherheit sind.
Die EU unterstützt weiterhin tatkräftig Bosnien und Herzegowina. Dabei müssen insbesondere die Reformfortschritte, die politische Stabilität und die Bedeutung der europäischen Perspektive als verbindende Kraft für alle Bevölkerungsgruppen im Vordergrund stehen. Der weite Weg Bosnien-Herzegowinas kann nur durch glaubwürdige Reformen und durch die Bewahrung der territorialen Integrität in die EU führen. Es liegt an den politischen Akteuren vor Ort, alle notwendigen Reformen konsequent umzusetzen.
DEKOM: Damals sprachen Sie von einer positiven Dynamik und der Liste mit 14 Prioritäten, die BIH erfüllen muss. Wo steht das Land heute konkret bei der Umsetzung dieser Kriterien? Gibt es Bereiche, in denen Sie deutliche Fortschritte sehen – und welche der 14 Punkte erweisen sich als besonders hartnäckige Hindernisse?
McAllister: In den vergangenen zwei Jahren hat Bosnien und Herzegowina wichtige Fortschritte erzielt. Dennoch bleibt der Reformprozess weiterhin unvollständig. Es wurden mehrere zentrale Gesetze verabschiedet – etwa zur Grenzkontrolle und oder zum Datenschutz. Das Land steuert damit auf europäische Standards zu. Auch die Annahme einer nationalen Anti-Korruptionsstrategie für den Zeitraum 2024 bis 2028 sowie der zugehörige Aktionsplan belegen eine grundsätzliche Reformbereitschaft.
Eine der 14 Prioritäten der Europäischen Kommission ist erfüllt: die kontinuierliche und konstruktive Arbeit im parlamentarischen Stabilisierungs- und Assoziierungsausschuss zwischen der EU und Bosnien und Herzegowina. Das sichert die aktive Einbindung auf parlamentarischer Ebene.
Das Europäische Parlament hat in seiner jüngsten Entschließung im Juli fortbestehende Schwächen benannt, insbesondere mit Blick auf Rechtsstaatlichkeit und institutionelle Koordination. Dringend geboten ist ein neues Gesetz über die Gerichte sowie über den Hohen Justiz- und Staatsanwaltsrat. Beide müssen vollständig im Einklang mit den Empfehlungen der Venedig-Kommission sein. Nur so kann eine unabhängige, transparente und effiziente nationale Justiz gewährleistet werden.
Hinzu kommen weitere Reformfelder: Das Gesetz über Interessenkonflikte wurde zwar angenommen, entspricht aber noch nicht in allen Punkten den europäischen Standards. Fortschritte gibt es beim Kampf gegen die Korruption und bei der Zusammenarbeit mit der Agentur der Europäischen Union für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (Eurojust). Doch das Vorgehen gegen organisierte Kriminalität bleibt herausfordernd. Auch die Reform der öffentlichen Verwaltung, den Staatsdienst zu entpolitisieren und die Meinungs- und Medienfreiheit zu stärken sind für den weiteren EU-Kurs entscheidend.
Ein besonders hartnäckiges Hindernis bleibt die fehlende Einigung über Verfassungs- und Wahlrechtsreformen. Das Europäische Parlament hat klar hervorgehoben, dass diese Reformen im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention stehen müssen, um Diskriminierung im Wahlprozess zu beenden und die Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen. Die Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des bosnischen Verfassungsgerichts müssen umgesetzt werden. Gleichzeitig gilt es, die im März 2024 eingeführten Integritätsstandards im Wahlgesetz konsequent umzusetzen, um das Vertrauen in die Wahlen wiederherzustellen.
DEKOM: Sie haben 2023 selbstkritisch eingeräumt, dass die EU durch ihre ‚zögerliche Haltung‘ an Glaubwürdigkeit auf dem Westbalkan verloren hat. Hat sich daran etwas geändert? Und wie begegnen Sie der wachsenden Frustration in der Region, dass das ‚Versprechen von Thessaloniki‘ von 2003 nach über 20 Jahren noch immer nicht eingelöst ist?
McAllister: Die Erweiterungspolitik ist eines der wirksamsten außenpolitischen Instrumente der Europäischen Union – und zugleich eine geostrategische Investition in Frieden, Demokratie und Stabilität auf unserem Kontinent. Das „Versprechen von Thessaloniki“ gilt fort und es wird Schritt für Schritt mit Leben gefüllt. Zugleich ist die EU-Erweiterung weder Automatismus noch Symbolpolitik. Sie beruht auf klaren Kriterien, auf Reformen, auf Rechtsstaatlichkeit und auf demokratischer Reife. Fortschritt wird nach Leistung gemessen, nicht nach politischer Rhetorik.
Gleichzeitig muss sich auch die Europäische Union selbst auf eine neue Erweiterungsrunde vorbereiten – institutionell, finanziell und politisch. Nur wenn die EU ihre internen Entscheidungsprozesse effizienter gestaltet und ihre Strukturen modernisiert, kann eine weitere Erweiterung glaubhaft und nachhaltig gelingen. Mehr als 20 Jahre nach Thessaloniki erwarten die Menschen in den Beitrittsländern sichtbare Fortschritte. Doch der Weg der europäischen Integration ist kein rein technischer, sondern ein tiefgreifender politischer und gesellschaftlicher Transformationsprozess.
DEKOM: Können Sie uns einen realistischen zeitlichen Horizont nennen? Wann rechnen Sie frühestens mit dem tatsächlichen Beginn der Beitrittsverhandlungen mit Bosnien und Herzegowina – und unter welchen Voraussetzungen könnte dieser Startschuss noch 2025 oder 2026 fallen?
McAllister: Der „zeitliche Horizont“ des EU-Beitritts hängt allein davon ab, wann Bosnien und Herzegowina die noch offenen Bedingungen erfüllt. Die Beschlüsse des Rates sind eindeutig: Sobald die Empfehlungen der Europäischen Kommission – insbesondere im Hinblick auf Justizreform, Korruptionsbekämpfung und institutioneller Koordination – umgesetzt sind, kann der Rat den Verhandlungsrahmen annehmen und die erste Regierungskonferenz einberufen.
Dafür müssen allerdings wesentliche Voraussetzungen erfüllt sein. Dazu gehört die Verabschiedung eines neuen Gerichts- und Justizgesetzes, die vollständige Umsetzung der Gesetze zu Interessenkonflikten und öffentlicher Verwaltung sowie die Ernennung eines Chefverhandlers, der die Beitrittsverhandlungen auf bosnischer Seite koordiniert. Wann dies gelingt, hängt vom echten politischen Willen in Sarajevo ab. Die EU steht bereit. Doch wir erwarten, dass alle Akteure konstruktiv zusammenarbeiten und die Reformagenda mit Nachdruck umsetzen.
DEKOM: Vielen Dank!
Im zweiten Teil unseres Interviews, der in der kommenden Ausgabe erscheint, spricht David McAllister über die konkreten nächsten Schritte im Beitrittsprozess, die Stimmung in der bosnisch-herzegowinischen Bevölkerung und bewertet das Agieren der politisch Verantwortlichen in Sarajevo – einschließlich der kritischen Situation in der Republika Srpska. (DEKOM, 28.10.2025)
Zur Person
David McAllister ist CDU-Politiker und seit 2014 Mitglied des Europäischen Parlaments sowie seit 2017 Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten. Er war von 2010 bis 2013 Ministerpräsident von Niedersachsen und zuvor kommunalpolitisch aktiv, unter anderem als Bürgermeister von Bad Bederkesa (2001-2002). (DEKOM, 28.10.2025) Mehr Infos zu David McAllister hier…
