Chemie-Standorte schlagen Alarm: Gewerbesteuerausfälle in dreistelliger Millionenhöhe

Die anhaltende Krise der deutschen Chemieindustrie trifft die kommunalen Haushalte mit voller Wucht. Besonders deutlich zeigt sich das in Leverkusen: Der Stadt fehlen 285 Millionen Euro an Gewerbesteuereinnahmen. Statt der erwarteten 385 Millionen Euro fließen nur rund 100 Millionen Euro in die Kasse – ein Ausfall von fast 75 Prozent. Die Schwierigkeiten der Branche sind längst keine bloße Konjunkturdelle mehr. Hohe Energiepreise, der CO₂-Zertifikatehandel, eine dichte Regulierung und Billigimporte aus China setzen die Chemieindustrie unter Druck. Immer mehr Unternehmen prüfen, ob sich die Produktion in Deutschland noch lohnt. Besonders eindringlich hat zuletzt INEOS-Gründer Sir Jim Ratcliffe vor einem schleichenden Substanzverlust gewarnt. Europa – und speziell Deutschland – verliere zunehmend seine industrielle Wettbewerbsfähigkeit, erklärte der Unternehmer. Energie sei hier doppelt so teuer wie in den USA, Investitionen würden durch langwierige Genehmigungsverfahren und komplexe Vorschriften behindert. Ratcliffe fordert eine industriepolitische Kehrtwende: niedrigere Energiepreise, weniger Bürokratie und schnellere Genehmigungen. Nur so könne verhindert werden, dass sich immer mehr Chemieunternehmen aus Europa zurückziehen. Auch aus den Kommunen kommt deutliche Kritik an der derzeitigen Energie- und Klimapolitik. Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen mahnt, dass der größte Chemie-Standort Europas nur dann eine Zukunft habe, wenn die Energiepreise wieder planbar und wettbewerbsfähig werden. Eine verlässliche und transparente Energiepolitik sei dafür Voraussetzung. Insbesondere die Stadt Leverkusen steht exemplarisch für die Risiken einer einseitigen Wirtschaftsstruktur. Noch 2021 konnte die Stadt mit gesenktem Gewerbesteuersatz steigende Einnahmen verzeichnen. Doch die Verluste des Bayer-Konzerns reißen nun ein massives Loch in den Haushalt. Die Stadt will dennoch investieren – in nachhaltige Mobilität, Stadtgestaltung und eine breitere Wirtschaftsstruktur, um unabhängiger von der Chemie zu werden. Auch in Ludwigshafen, dem BASF-Stammsitz, steht die Industrie vor tiefgreifenden Einschnitten. Der Konzern will bis 2026 jährlich eine Milliarde Euro einsparen. Konzernchef Markus Kamieth fordert von der Politik wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen, während Betriebsratschef Sinischa Horvat von großer Ungewissheit unter den Beschäftigten spricht. Die chemische Industrie steht für hohe Gewerbesteuereinnahmen, überdurchschnittliche Einkommen und starke Zuliefernetzwerke. Ihr Abschwung wirkt daher unmittelbar auf kommunale Haushalte, Arbeitsmärkte und Investitionen. „Was einmal weg ist, kommt nicht zurück“, warnte IGBCE-Chef Michael Vassiliadis. Kommunen können die strukturellen Veränderungen nicht aufhalten, aber abfedern. Entscheidend ist, die Wirtschaftsstruktur breiter aufzustellen, interkommunal enger zu kooperieren, potenzielle Gewerbesteuerausfälle frühzeitig zu erkennen und den Dialog mit ansässigen Unternehmen zu intensivieren. Eine aktive Standortpolitik mit Fokus auf zukunftsfähige Branchen wird zur Kernaufgabe kommunaler Wirtschaftsförderung. Die Chemiekrise macht deutlich, dass Standortpolitik längst Teil der kommunalen Daseinsvorsorge geworden ist – und dass Energie- und Industriepolitik nicht nur über Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch über die Handlungsfähigkeit der Städte und Gemeinden entscheiden. (DEKOM, 10.11.2025)

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