Algorithmen im Wahlkampf: Verzerrte Sichtbarkeit gefährdet politische Ausgewogenheit
Empfehlungsalgorithmen sozialer Netzwerke beeinflussen zunehmend, welche politischen Botschaften junge Menschen im Wahlkampf erreichen. Eine aktuelle Studie der Universität Potsdam in Kooperation mit der Bertelsmann Stiftung zeigt: Parteien der politischen Mitte sind in den Feeds junger Nutzerinnen und Nutzer deutlich seltener sichtbar als Parteien an den Rändern. Selbst wenn CDU/CSU oder SPD häufiger posten, erscheinen ihre Beiträge deutlich seltener in den Social-Media-Feeds. Im Rahmen der Untersuchung „Digitalisiert, politisiert, polarisiert?“ wurden über 2,6 Millionen Videos auf TikTok, Instagram, YouTube und X im Zeitraum vom 1. Januar bis 23. Februar 2025 analysiert. Die SPD stellte mit 24,1 Prozent den größten Anteil der hochgeladenen Videos, wurde aber nur zu 14,1 Prozent in den Feeds junger Nutzerinnen und Nutzer angezeigt. Ähnlich die CDU/CSU: 17,1 Prozent der Beiträge, aber nur 4,9 Prozent Sichtbarkeit. Parteien an den politischen Rändern hingegen profitierten deutlich. Die AfD erreichte mit 21,5 Prozent der Videos einen Feed-Anteil von 37,4 Prozent – nahezu eine Verdopplung. Die Linke konnte ihre Sichtbarkeit sogar verdreifachen, von 9,7 Prozent der Beiträge auf 27,6 Prozent der angezeigten Inhalte. Besonders auffällig: Politische Videos mit Bezug zur AfD wurden den Nutzerprofilen am schnellsten vorgeschlagen. Innerhalb von durchschnittlich zwölf Minuten erschien auf neu angelegten TikTok-Accounts erstmals ein Video mit dem Hashtag #afd. Ein Beitrag mit #spd wurde dagegen erst nach rund 70 Minuten angezeigt. Über alle Plattformen hinweg entfielen etwa die Hälfte der parteibezogenen Inhalte auf AfD-Videos. Die Studienautorinnen Amber Jensen und Kira Schrödel von der Bertelsmann Stiftung betonen, dass sich die Ursachen für die ungleiche Sichtbarkeit nicht eindeutig erklären lassen. Interaktionsmetriken wie Likes, Kommentare oder Views spielten zwar eine Rolle, reichten aber nicht aus, um die deutlichen Unterschiede zu begründen. Entscheidend sei die Intransparenz der Plattform-Algorithmen. Diese bestimmten, was jungen Menschen überhaupt begegnet – und damit, welche Themen politische Aufmerksamkeit erhalten. Für Kommunen und kommunalpolitische Akteure hat die Untersuchung eine besondere Relevanz. Junge Wählerinnen und Wähler informieren sich zunehmend in sozialen Medien über Politik – nicht mehr über klassische Presse oder öffentliche Veranstaltungen. Wenn aber digitale Feeds Parteien und Positionen der Mitte seltener anzeigen, droht ein verzerrtes Bild politischer Vielfalt. Das kann nicht nur bundespolitische Wahlkämpfe beeinflussen, sondern auch kommunale Diskurse und Beteiligungsprozesse. Kommunale Öffentlichkeitsarbeit und politische Bildung stehen damit vor einer neuen Herausforderung. Digitale Kanäle müssen stärker genutzt werden, um junge Zielgruppen zu erreichen. Gleichzeitig braucht es mehr Bewusstsein für algorithmische Mechanismen: Kommunen können über Schulen, Jugendparlamente oder Volkshochschulen zur Stärkung digitaler Medienkompetenz beitragen. Auch Wahlämter und kommunale Wahlleitungen könnten bei künftigen Wahlen stärker auf digitale Informationsstrategien setzen. Die Studie formuliert drei zentrale Empfehlungen: Kurzfristig sollten bislang unterrepräsentierte Akteure – darunter Parteien der Mitte und kommunale Institutionen – ihre Präsenz auf Plattformen wie TikTok ausbauen und dort auf respektvolle, dialogorientierte Kommunikation setzen. Mittelfristig gilt es, digitale Bildung und Feed-Selbstbestimmung zu stärken, damit junge Menschen algorithmische Prozesse besser verstehen. Langfristig braucht es verbindliche Transparenzpflichten für Plattformen, um demokratische Ausgewogenheit im digitalen Raum zu sichern. Soziale Medien sind für viele junge Menschen die wichtigste Informationsquelle zur Politik – doch ihre Inhalte entstehen nicht zufällig. Wenn Algorithmen radikalere Positionen bevorzugen und moderate Stimmen seltener sichtbar machen, kann das die politische Kultur nachhaltig verändern. Für Kommunen heißt das: Digitale Demokratiearbeit wird zur Daueraufgabe – als Teil politischer Bildung, als Instrument der Öffentlichkeitsarbeit und als Beitrag zur Stärkung der demokratischen Mitte. (Bertelsmann-Stiftung, 03.11.2025) Ganzer Artikel hier…
