KARL: „Die 80-Prozent-Quote steht auf wackligem Fundament“
Nach der neuen EU-Kommunalabwasserrichtlinie müssen Kläranlagen künftig um eine vierte Reinigungsstufe erweitert werden, die gezielt Mikroschadstoffe wie pharmazeutische Rückstände und Kosmetikrückstände aus dem Abwasser entfernt. Die Kosten dafür sollen zu 80 % von der Pharma- und Kosmetikindustrie getragen werden. Kommunale Spitzenverbände begrüßen dies ausdrücklich. Pharma- und Kosmetikverbände hingegen kritisieren die Regelung als einseitig, nicht verursachergerecht und warnen vor Versorgungsrisiken. Nach zunehmender Kritik – auch aus der Ärzteschaft – hat die EU-Kommission angekündigt, die Kosten- und Folgenabschätzung zur erweiterten Herstellerverantwortung nochmals zu prüfen. Vor diesem Hintergrund haben wir mit Jörg Wieczorek, Vorstandsvorsitzender des größten Branchenverbandes der Pharmaindustrie, Pharma Deutschland gesprochen.
DEKOM: Herr Wieczorek, die EU hat die Kommunalabwasserrichtlinie Ende 2024 verabschiedet. Was bedeutet diese neue Vorgabe aus Sicht der Pharmaindustrie?
Jörg Wieczorek: Grundsätzlich verfolgt die Kommunalabwasserrichtlinie ein wichtiges und richtiges umweltpolitisches Ziel – wir begrüßen ausdrücklich, dass Spurenstoffe aus dem Abwasser entfernt werden sollen. Die vierte Reinigungsstufe ist auch eine notwendige Investition in die Infrastruktur. Entscheidend ist aber die Frage, wer für die Spurenstoffe im Abwasser in welchem Maße verantwortlich ist und wer die Kosten verursacht. Genau da müssen wir hinschauen, bevor wir über die Finanzierung reden.
DEKOM: Die EU-Kommission behauptet, rund 92 % der schädlichen Mikroschadstoffe im Abwasser gingen auf das Konto von pharmazeutischen (66%) und kosmetischen (26%) Produkten, weshalb diese Branchen den Löwenanteil der neuen Reinigungsstufe finanzieren sollen. Stimmt diese Zuschreibung aus Ihrer Sicht?
Jörg Wieczorek: Aus unserer Sicht sind diese Zahlen so nicht haltbar. Woher auch immer die Prozentangeben kommen – sie wurden nicht auf solider Datengrundlage erarbeitet. Die EU-Kommission hat hier offenbar nur einen Teil der verfügbaren Studien herangezogen und diese selektiv interpretiert. Die Kommission hat letzte Woche selbst erkannt, dass ihre Grundlagen nicht belastbar genug sind, und will die Daten überprüfen lassen. Wir begrüßen diese Einsicht ausdrücklich.
Fakt ist: Verursacher der Mikroschadstoffe im Abwasser sind bei Weitem nicht nur pharmazeutische oder kosmetische Produkte. Es gibt eine Vielzahl anderer Quellen – etwa Pflanzenschutzmittel, Reinigungs- und Waschmittel, Industriechemikalien, Abrieb von Autoreifen oder Mikroplastik in unseren Gewässern. Trotzdem hat man sich in der Richtlinie auf zwei Branchen – Pharma und Kosmetik – eingeschossen. Diese einseitige Fixierung blendet die anderen Verursacher komplett aus und wird den komplexen Ursachen des Problems nicht gerecht.
DEKOM: Befürworter des 80 zu 20 Prinzips sagen, die Pharmaindustrie sei reich und könne diese Kosten durchaus tragen…
Jörg Wieczorek: Das ist viel zu pauschal. Vor allem die Generika-Hersteller, die rund 80 % der verschreibungspflichtigen Arzneimittel in Deutschland bereitstellen, arbeiten seit Jahren am Rande der Wirtschaftlichkeit. Dafür gibt es zwei Hauptgründe: Erstens unterliegen patentfreie, erstattungsfähige Medikamente seit 2009 einem staatlichen Preisstopp – die Preise sind also seit über 15 Jahren gedeckelt, während Löhne, Energie- und Rohstoffkosten gestiegen sind. Zweitens sorgen die Rabattverträge der Krankenkassen dafür, dass pro Wirkstoff oft nur ein oder zwei Anbieter den Zuschlag erhalten, was einen enormen Preisdruck erzeugt.
Die Folge: In der Generika-Sparte gibt es keinerlei „fette Margen“. Viele dieser Unternehmen kämpfen eher ums Überleben, als dass sie überschüssiges Kapital hätten. Wenn man nun dieser ohnehin angespannten Branche noch Milliardenkosten für Kläranlagenausbauten aufbürdet, wäre die Versorgung mit günstigen Medikamenten akut gefährdet. Ich sage das ganz deutlich: Dann bricht die Generikaversorgung weg. Die Hersteller könnten bestimmte Arzneimittel schlicht nicht mehr kostendeckend anbieten, und sie würden sich vom Markt zurückziehen müssen.
In so einem Szenario droht ein regelrechter Kaskadeneffekt: Je mehr Hersteller aus dem Markt austreten, desto höhere zusätzliche Kosten müssten die Verbleibenden schultern – was wiederum weitere Firmen in die Knie zwingen könnte. Am Ende hätten wir statt Wettbewerb nur noch teure Alternativen. Das würde nicht nur die Patienten treffen, sondern auch unser Gesundheitssystem und die Krankenkassen massiv belasten.
DEKOM: Wie hoch wären denn die Kosten für diese vierte Reinigungsstufe insgesamt? Darüber kursieren sehr unterschiedliche Schätzungen. Wovon gehen Sie aus?
Jörg Wieczorek: Die Gesamtkosten sind schwer exakt zu beziffern, aber wir reden hier sicherlich über einen zweistelligen Milliardenbetrag über einen Zeitraum von zehn Jahren. Unser Realitätscheck anhand bereits gebauter vierter Reinigungsstufen zeigt, dass allein die Baukosten in der Praxis deutlich über den bisherigen Annahmen liegen. Und da sind die laufenden Betriebskosten noch gar nicht drin.
Als Industrie denken wir in Zeithorizonten von zehn, fünfzehn Jahren – und wir sehen: Selbst deutlich geringere Summen wären für unsere Branche nur schwer zu stemmen. Nochmal: Wir verweigern uns nicht einer finanziellen Beteiligung. Aber sie muss fair und über alle Mikroschadstoffe im Abwasser hinweg verursachergerecht ausgestaltet sein.
Im Arzneimittelsektor haben wir darüber hinaus das besondere Problem, dass wir Preiserhöhungen gesetzlich gar nicht einfach weitergeben können. Für verschreibungspflichtige Medikamente gilt seit 2009 ein Preisdeckel, wir könnten also nicht ohne Weiteres einen „Kläranlagen-Aufschlag“ auf unsere Produkte schlagen.
Das heißt: Selbst, wenn die Industrie Milliardenkosten tragen müsste, käme das nicht in Form höherer Arzneimittelpreise bei den Patienten an, sondern in Form von Versorgungsengpässen. Im schlimmsten Fall könnten wir bestimmte Medikamente gar nicht mehr liefern. Dann müsste der Arzt auf andere (oft deutlich teurere) Präparate ausweichen – zulasten der Krankenkassen. Man würde also das Gegenteil dessen erreichen, was man wollte: Statt Kosten zu sparen, würde die Behandlung am Ende teurer, weil preisgünstige Generika wegfallen.
Letztlich zahlen wir als Bürger so oder so die Rechnung – entweder als Versicherte über höhere Krankenkassenbeiträge oder als Verbraucher über steigende Wassergebühren in der Kommune.
DEKOM: Vielen Dank!
Fazit
Die Kritik der Pharmaindustrie an der 80-Prozent-Quote erscheint berechtigt. Wenn die Datengrundlage tatsächlich so dünn ist, wie Wieczorek schildert, und andere Verursacher systematisch ausgeblendet werden, ist eine Neubetrachtung dringend geboten. Besonders alarmierend sind die möglichen Folgen für die Generikaversorgung: Sollten tatsächlich günstige Standardmedikamente vom Markt verschwinden, wäre das ein hoher Preis für eine möglicherweise überstürzte Regelung.
Im zweiten Teil unseres Interviews geht es in der nächsten DEKOM-Ausgabe am 7. Juli 2025 um konkrete Lösungsvorschläge der Pharmaindustrie und die Frage, wie eine faire und datenbasierte Verteilung der Kosten aussehen könnte. (DEKOM, 23.06.2025)
Zur Person
Jörg Wieczorek ist Geschäftsführer der HERMES Arzneimittel Holding GmbH und steht seit 1. Juli 2014 als Vorstandsvorsitzender an der Spitze von Pharma Deutschland.
Über Pharma Deutschland
Pharma Deutschland ist der größte Branchenverband der Pharmaindustrie in Deutschland und vertritt rund 400 Mitgliedsunternehmen. Neben globalen Pharmaunternehmen sowie kleinen und mittelständischen Unternehmen gehören auch Apotheker, Rechtsanwälte, Verlage, Agenturen und Marktforschungsinstitute dazu. Die Mitglieder sichern die Arzneimittelversorgung in Deutschland, indem sie fast 80 Prozent der rezeptfreien und zwei Drittel der rezeptpflichtigen Medikamente sowie einen Großteil der stofflichen Medizinprodukte bereitstellen. Mehr Infos hier…