KARL: „Erst die Fakten klären, dann fair verteilen“

Im ersten Teil unseres Interviews kritisierte Jörg Wieczorek, Vorstandsvorsitzender von Pharma Deutschland, die geplante 80-prozentige Kostenbeteiligung der Pharma- und Kosmetikindustrie an der vierten Reinigungsstufe. Die Datengrundlage sei nicht belastbar, andere Verursacher würden ausgeblendet, und für die ohnehin unter Preisdruck stehende Generikabranche könnte dies das Aus für viele Medikamente bedeuten. Im zweiten Teil sprechen wir über konkrete Lösungsansätze, die Rolle der Kommunen und die kürzlich angekündigte Überprüfung der Richtlinie durch die EU-Kommission.

DEKOM:  Herr Wieczorek, Sie schließen eine sachgerechte Beteiligung der Branche an den Kosten der vierten Reinigungsstufe nicht aus – sofern sie auf realistischen Daten und fairer Verteilung beruht. Wie ließe sich Ihrer Ansicht nach ein tragfähiges Modell gestalten?

Jörg Wieczorek: Wir fordern ganz konkret, alle verfügbaren Daten und Studien erst einmal auf den Tisch zu legen und sorgfältig auszuwerten. Es muss klar analysiert werden: Welche Stoffe in welchem Umfang belasten das Abwasser? Wer trägt wie viel dazu bei? Auf dieser Grundlage kann man dann über eine faire Verteilung der Lasten auf alle Verursacher sprechen. Man darf nicht nur ein paar Fakten herauspicken. Es geht uns darum, das gesamte Bild zu betrachten. Man sollte nicht nur eine Handvoll der 37 verfügbaren Studien heranziehen. Wenn alle relevanten Branchen entsprechend ihrem Verursacheranteil einbezogen werden – von Mikrokunststoffen über Reifenabrieb bis hin zu Industriechemikalien – dann ist die Pharmaindustrie sofort bereit, ihren fairen Anteil zu leisten.

DEKOM: Viele Kläranlagen wissen momentan gar nicht genau, welche Spurenstoffe in welcher Konzentration in ihrem Abwasser ankommen. Ohne diese Daten ist es schwer, überhaupt die richtigen Verfahren für eine vierte Reinigungsstufe auszuwählen. Ist es da nicht verfehlt, schon jetzt pauschal der Pharmaindustrie den größten Teil der Verantwortung zuzuschieben?

Jörg Wieczorek: Sie sprechen einen wichtigen Punkt an. Tatsächlich gibt es bislang keine umfassende Datengrundlage dazu, welche Mikroschadstoffe in welchem Ausmaß in den kommunalen Abwässern vorhanden sind. Viele Kläranlagenbetreiber können das gar nicht detailliert beziffern. Oft arbeitet man mit Indikatorstoffen – bestimmten Arzneimittel-Rückständen, die überall im Abwasser nachweisbar sind, weil sie von vielen Menschen nach Einnahme eines Medikaments wieder ausgeschieden werden. Dass man solche Substanzen findet, ist also wenig überraschend. Daraus zu folgern, diese Arzneistoffe würden 80–90% der Gewässerbelastung ausmachen, greift jedoch zu kurz. Genau das hat ja auch unser Ramboll-Gutachten aufgezeigt. Natürlich ist es richtig, dass Arzneimittelreste über die menschlichen Ausscheidungen im Abwasser landen – niemand bestreitet das. Aber es ist Aufgabe von Wissenschaft und Abwassertechnik, zu erforschen, welche Stoffe darüber hinaus in welchem Umfang vorhanden sind und wie man sie am besten entfernt. Es kann nicht allein der Pharmaindustrie überlassen werden, hier Patentrezepte zu liefern. Übrigens fließt in vielen Städten auch Regenwasser in die Kanalisation – je nach Wetterlage und Region macht Niederschlagswasser bis zu 50 % des Abwassers aus. Wenn es stark regnet, spült es unweigerlich allerlei Schadstoffe von Straßen, Dächern und Freiflächen in den Kanalisation. Auch das trägt erheblich zur Belastung des Abwassers bei, hat aber mit Arzneimitteln nichts zu tun.

DEKOM: Unsere Leser sind ja vor allem Bürgermeister und Kommunalpolitiker. Was können die Kommunen tun, um einerseits sauberes Wasser sicherzustellen, andererseits aber auch eine für alle tragbare Umsetzung der Richtlinie zu erreichen?

Jörg Wieczorek: Aus unserer Sicht sollten die Kommunen – gemeinsam mit Bund und Ländern – darauf dringen, zuerst eine solide Faktenbasis zu schaffen. Bevor man über Finanzierungsanteile streitet, muss klar sein, welche Stoffe verursachen welche Kosten. Eine umfassende Analyse aller Spurenstoffe im Abwasser wäre der erste Schritt. Darauf basierend kann man dann mit allen beteiligten Branchen Lösungen entwickeln, wie man die Einträge verringert und die nötigen Kosten fair verteilt. Nur wenn man das gesamte Bild kennt, lassen sich priorisierte Maßnahmen ableiten: Wo bringt eine vierte Reinigungsstufe am meisten? Wo gibt es vielleicht auch andere Ansätze, etwa bei Industrieeinleitern oder durch Aufklärung der Verbraucher? Wichtig ist vor allem, alle relevanten Akteure an einen Tisch zu holen. Wenn Kommunen nämlich nur einen oder zwei Sündenböcke herausgreifen, besteht die Gefahr, dass das eigentliche Problem nicht gelöst wird.

DEKOM: Die EU-Kommission hat im Rahmen ihrer neuen Wasserresilienz-Strategie zuletzt angekündigt, die Kommunalabwasserrichtlinie nochmal auf den Prüfstand zu stellen. Ihr Verband hat diese Entscheidung begrüßt. Halten Sie es für realistisch, dass die Richtlinie grundlegend geändert wird? Was erwarten Sie von dieser Überprüfung?

Jörg Wieczorek: Dass eine bereits verabschiedete EU-Richtlinie nochmal aufgeschnürt und hinterfragt wird, kommt äußerst selten vor. Insofern ist das schon bemerkenswert und zeigt, wie stark  die Bedenken selbst auf EU-Ebene geworden sind. Wir sehen diese Ankündigung als positives Signal, dass die Entscheidungsträger in Brüssel gemerkt haben: Hier stimmt etwas nicht, wir müssen nochmal nacharbeiten. Auch in Deutschland tut sich etwas. In den letzten Tagen haben sich sowohl die Gesundheitsministerkonferenz als auch die Wirtschaftsministerkonferenz der Bundesländer mit möglichen Folgen der Kommunalabwasserrichtlinie befasst und vor den Auswirkungen auf die Arzneimittelversorgung gewarnt. Natürlich wissen wir noch nicht, was am Ende herauskommt. Aber allein die Einsicht, dass man die Datengrundlage und Annahmen überprüfen muss, ist ein wichtiger Schritt.

DEKOM: Könnte das Ergebnis dieser Neubewertung nicht auch einfach sein, dass die Quote etwas abgesenkt wird? Also anstelle von 80 % zum Beispiel 60 % Herstellerbeteiligung – würden Sie ein Entgegenkommen in dieser Größenordnung begrüßen, oder lehnt die Pharmaindustrie die EPR-Grundidee insgesamt ab?

Jörg Wieczorek: Wir nehmen die Herstellerverantwortung sehr ernst und sind durchaus bereit, unseren Beitrag zu leisten – aber gleichberechtigt mit allen anderen Verursachern. Es kann nicht sein, dass allein zwei Branchen die Hauptlast tragen, während alle anderen Verursacher außen vor bleiben.

Ob am Ende 60% oder 30% oder ein ganz anderes Modell stehen – darüber spekulieren wir nicht. Das hier ist kein Basar, auf dem wir um Prozentsätze feilschen. Wichtig ist für uns das Prinzip: Die Lasten müssen fair und evidenzbasiert verteilt werden. Solange keine belastbaren Gesamtdaten vorliegen, macht es keinen Sinn, irgendeine Zahl in den Raum zu stellen. Die Kosmetikindustrie könnte z.B. Preissteigerungen relativ leicht an die Kunden weitergeben, wir im Arzneimittelsektor können das nicht ohne weiteres. Solche spezifischen Unterschiede müssen berücksichtigt werden, sonst schadet man am Ende der Gesundheitsversorgung.

DEKOM: Abschließend nochmal zugespitzt: Was genau fordern Sie von der Politik?

Jörg Wieczorek: Eine vernünftige, seriöse Datengrundlage mit einer umfassenden Folgenabschätzung – und erst darauf aufbauend Entscheidungen über die Verteilung der Kosten. Wenn diese Basis geschaffen ist, setzen wir uns gerne zusammen und finden eine Lösung, wie wir alle gemeinsam für sauberes Wasser sorgen können, ohne die Medikamentenversorgung zu gefährden. Bis dahin sollte eine nationale Umsetzung der Richtlinie gestoppt werden. In einem Satz: Erst die Fakten klären, dann die Lasten fair verteilen. Damit wäre allen gedient.

DEKOM: Vielen Dank!

Fazit

Die Position der Pharmaindustrie ist klar: Ja zur Verantwortung, nein zur einseitigen Belastung ohne valide Datengrundlage. Die angekündigte Überprüfung der EU-Kommission bietet die Chance, eine sachgerechtere Lösung zu finden. Für die Kommunen bedeutet das: Sie sollten auf eine transparente Datenbasis drängen und alle Verursacher in die Pflicht nehmen – nicht nur die vermeintlich zahlungskräftigen.

Die Warnung vor möglichen Versorgungsengpässen bei Medikamenten sollte ernst genommen werden. Eine vierte Reinigungsstufe ist wichtig für den Gewässerschutz, aber sie darf nicht zu Lasten der Gesundheitsversorgung gehen. Die Devise muss lauten: Erst umfassend analysieren, dann gerecht verteilen – alles andere wäre fahrlässig.

Zur Person

Jörg Wieczorek ist Geschäftsführer der HERMES Arzneimittel Holding GmbH und steht seit 1. Juli 2014 als Vorstandsvorsitzender an der Spitze von Pharma Deutschland.

Über Pharma Deutschland

Pharma Deutschland ist der größte Branchenverband der Pharmaindustrie in Deutschland und vertritt rund 400 Mitgliedsunternehmen. Neben globalen Pharmaunternehmen sowie kleinen und mittelständischen Unternehmen gehören auch Apotheker, Rechtsanwälte, Verlage, Agenturen und Marktforschungsinstitute dazu. Die Mitglieder sichern die Arzneimittelversorgung in Deutschland, indem sie fast 80 Prozent der rezeptfreien und zwei Drittel der rezeptpflichtigen Medikamente sowie einen Großteil der stofflichen Medizinprodukte bereitstellen. Mehr Infos hier…

Zum ersten Teil des Interviews hier…

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