Die Stadt Nettetal (NRW) treibt die Digitalisierung der Verwaltung konsequent voran. Bereits 2023 etablierte die Stadt einen KI-basierten Chatbot. Jetzt soll die Nutzung künstlicher Intelligenz sukzessive auf andere Anwendungsfelder und Bereiche in der Kommunalverwaltung ausgeweitet werden. Über Nettetals Weg vom „Nette-Bot“ bis zur KI-gestützten Vereinfachung von Verwaltungsprozessen haben wir uns mit Nettetals Bürgermeister Christian Küsters (Grüne) und dem IT-Leiter der Stadtverwaltung, Thorsten Rode, unterhalten.
Was hat die Stadt zur Umsetzung des Chatbots bewogen?
Thorsten Rode: Im Zuge des vollständigen Neuaufbaus unserer Webseite standen wir kurz vor dem Relaunch, als die Firma neuraflow auf uns zukam und ihren KI-gestützten Chatbot vorstellte. Das Thema Künstliche Intelligenz war in unserer Verwaltung bereits diskutiert worden, und wir waren von den Möglichkeiten, die dieser Chatbot bot, sofort begeistert. Besonders beeindruckend war die Tatsache, dass neuraflow zu diesem Zeitpunkt zwar noch keine Referenzen oder bestehenden Kunden hatte, aber mit ihrer Lösung auf ganzer Linie überzeugte. Unsere Entscheidung für den Chatbot fiel letztlich aus voller Überzeugung, weshalb wir trotz eines gewissen Risikos auch den Mut hatten die Lösung umzusetzen. Ein großer Vorteil ist die Mehrsprachigkeit – der Chatbot kann über 90 Sprachen verstehen und sprechen, was die Integration und den Zugang für alle Bürgerinnen und Bürger erheblich erleichtert. Wir sehen ihn nicht als Ersatz, sondern als wertvolle Ergänzung unserer Dienstleistungen. In gewisser Weise haben wir eine neue Kollegin dazugewonnen – eine, die rund um die Uhr verfügbar ist, sofort Antworten liefert und die Kommunikation zwischen Verwaltung und Bürgerinnen und Bürgern spürbar verbessert.
Christian Küsters: Als Verwaltung probieren wir immer wieder neue Wege mit Bürgerinnen und Bürgern in den Austausch zu kommen. Über den Chatbot bietet wir einen echten Informationsmehrwert für die Bürgerschaft und entlasten unsere Mitarbeitenden.
Wie sind Ihre bisherigen Erfahrungen und wie wird das Angebot von den Bürgerinnen und Bürgern angenommen?
Thorsten Rode: Seit der Einführung unseres KI-Chatbots sehen wir spürbare Entlastungen im Verwaltungsalltag. Der Chatbot wird rege genutzt und führt täglich rund 10 Gespräche – das bedeutet, dass diese Anliegen nicht mehr in der Verwaltung auflaufen und unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entlastet werden. Bürgerinnen und Bürger erhalten schnelle Antworten, unabhängig von unseren Öffnungszeiten. Diese Entwicklung zeigt, dass digitale Assistenten nicht nur ein technischer Trend sind, sondern echte Mehrwerte schaffen. Der Chatbot nimmt uns nicht die Arbeit weg, sondern ergänzt unser Angebot sinnvoll, indem er Routinefragen übernimmt und so Kapazitäten für komplexere Anliegen freisetzt. Wir freuen uns, dass die Akzeptanz so hoch ist und sehen dies als Bestätigung für unsere Entscheidung.
Christian Küsters: Die Erfahrungen mit dem Chatbot sind sehr gut – insbesondere, wenn wir von unseren „Heavy- Usern“ Lob erhalten. Zudem macht das Lust auf mehr. Das Potential des Chatbot ist groß und damit der Mehrwert enorm erweiterbar.
In welchem Bereich kristallisieren sich die größten Stärken des Chatbots heraus?
Thorsten Rode: Der Chatbot entfaltet sein volles Potenzial vor allem bei der Beantwortung von Fragen zu unseren Dienstleistungen, die wir im Dienstleistungsportal abgebildet haben. Er liefert nicht nur präzise Informationen, sondern stellt auch direkte Verlinkungen zu den jeweiligen Dienstleistungen bereit und nennt die passenden Ansprechpersonen. So gelangen Bürgerinnen und Bürger schnell und unkompliziert an die richtigen Stellen. Ein echtes Highlight ist zudem seine Mehrsprachigkeit: Mit der Fähigkeit, in über 90 Sprachen zu kommunizieren – und dabei sogar Umgangssprache sicher zu verstehen – leistet er einen wertvollen Beitrag zur Integration. Probieren Sie es doch selbst einmal aus! Geben Sie beispielsweise „WauWau anmelden“ ein und lassen Sie sich überraschen, welche Antwort Sie erhalten.
Auch über den Chatbot hinaus setzt Nettetal auf KI-basierte Technologien zur Vereinfachung von Verwaltungsprozessen und Etablierung eines intelligenten Wissensmanagements. Worum geht es da genau?
Thorsten Rode: Unser Ziel ist es, eine DSGVO-konforme KI-Lösung bereitzustellen, die möglichst ausschließlich auf Open-Source-Komponenten basiert. Damit können wir interne Datenbestände sicher nutzen und gleichzeitig unsere digitale Souveränität bewahren. Mit dem von uns angestoßenen Projekt erkunden wir derzeit die vielfältigen Möglichkeiten, die uns diese Umgebung bietet. Gleichzeitig ermutigen wir unsere Mitarbeitenden, auch frei verfügbare KI-Tools aus dem Internet zu nutzen – jedoch in einem klar definierten Rahmen. Dafür haben wir uns an der Stadt Wien orientiert und einen KI-Kompass entwickelt. Dieser gibt Leitlinien vor, die eine gesunde Skepsis gegenüber KI-Ergebnissen fördern und Datenschutz als zentrales Thema verankern. So schaffen wir eine Balance zwischen Innovationsfreude und verantwortungsbewusstem Umgang mit Künstlicher Intelligenz.
Christian Küsters: Die Demografische Entwicklung und der Fachkräftemangel schreien nach neuen Lösungen, die individuell nutzbar und interaktiv sind um die Expertise in unserer Verwaltung dauerhaft nutzbar zu machen. Wir wollen vom Buzzword KI in konkrete Anwendungsfelder für die öffentliche Verwaltung kommen.
Wie wird das von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern angenommen und wie ist das Personal grundsätzlich in das Projekt eingebunden?
Thorsten Rode: Allein durch unseren KI-Kompass und die gezielte Auseinandersetzung mit dem Thema haben wir Künstliche Intelligenz aus ihrem Schattendasein herausgeholt – und das hat die Arbeitskultur spürbar verändert. Unsere Mitarbeitenden sollen und dürfen KI als Werkzeug nutzen, um ihre Arbeit effizienter und kreativer zu gestalten. Innerhalb eines klar definierten Rahmens haben sie die Möglichkeit zu experimentieren und eigene Erfahrungen zu sammeln. Im Grunde genommen demokratisieren wir damit die Arbeit: Wir machen Mitarbeitende von Betroffenen zu Beteiligten und schaffen echte Mitgestaltungsmöglichkeiten. Dass dieser Ansatz auf große Resonanz stößt, zeigt unser Beta-Tester-Programm. Innerhalb von nur 36 Stunden mussten wir die Anmeldung schließen, weil die Nachfrage so hoch war. Nun haben wir 26 engagierte Tester*innen aus allen Verwaltungseinheiten und Hierarchieebenen, die unsere eigene KI-Umgebung prüfen und sich intensiv weiterbilden. Das enorme Interesse bestätigt uns darin, dass KI nicht nur ein technisches Thema ist, sondern auch eine Chance für moderne Verwaltungsarbeit. Und wir sind noch lange nicht am Ende – allein in diesem Jahr wollen wir unser Konzept weiter ausbauen und die Möglichkeiten noch stärker nutzen.
Christian Küsters: Dieses Projekt bietet gerade deshalb so viel Potential, weil der Implementierungs-ansatz ein völlig anderer ist. Es gibt kein vorgegebenes Fachverfahren, sondern die Mitarbeitenden
entwickeln mit der KI ihre eigenen Use-Cases und machen sie für Dritte nutzbar. Das fördert die
intrinsische Motivation ungemein.
Häufig hören wir von einer gewissen Skepsis in der Belegschaft – wie lassen sich Befürchtungen um Arbeitsplatzverluste durch KI zerstreuen?
Thorsten Rode: Letztendlich geht es darum, unseren Mitarbeitenden ein Werkzeug an die Hand zu geben, das – richtig eingesetzt – ihren Arbeitsalltag spürbar erleichtert. KI kann Routineaufgaben übernehmen, Prozesse beschleunigen und hilft dabei, den stetig wachsenden Anforderungen an eine moderne kommunale Verwaltung gerecht zu werden. Gerade in Zeiten steigender Verwaltungsaufgaben und knapper personeller Ressourcen ist es entscheidend, effizient zu arbeiten. Der gezielte Einsatz von KI sorgt für Entlastung und schafft Freiräume für komplexere und wertschöpfendere Tätigkeiten. Dabei ist unser Ansatz klar: Wir nutzen KI nicht, um Menschen zu ersetzen, sondern um sie bestmöglich zu unterstützen, was wir auch in unserem KI-Kompass festgehalten haben. Ein Gewinn für alle – die Verwaltung und die Bürgerinnen und Bürger.
Christian Küsters: Als Verwaltungsspitze sind wir uns mit dem Personalrat einig, dass wir Lösungen für die Herausforderungen des demographischen Wandels und des Fachkräftemangels benötigen. Diese Haltung des Ermöglichens kombiniert mit einem Bottom-Up-Ansatz bei der Implementierung
hat schnell überzeugt.
Was braucht es aus Ihrer Sicht, um solche Anwendungen in einer Kommunalverwaltung erfolgreich zu etablieren?
Der wichtigste Schritt ist, die Verwaltung als das zu sehen, was sie im Kern ist – ein modernes
Dienstleistungsunternehmen. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, braucht es eine klare Vision, Mut zur Veränderung und eine Kultur des „einfach mal Machens“. Dazu gehört auch die Akzeptanz, dass Fehler passieren dürfen und aus ihnen gelernt wird. Ein solches Umdenken gelingt nur mit einer Führung, die voll hinter der Entwicklung steht, und mit Menschen innerhalb der Verwaltung, die als Treiber des Wandels agieren. Sie bringen nicht nur fachliche Expertise mit, sondern auch die Leidenschaft, neue Wege zu gehen und Konzepte aktiv mitzugestalten. Letztlich braucht es viele engagierte Köpfe, die Lust haben, sich einzubringen und die Verwaltung durch den Einsatz von KI weiterzuentwickeln. Diese Mischung aus Know-how, Neugier und Gestaltungswillen ist der Schlüssel zu echter Transformation.
Christian Küsters: Essentiell ist der Freiraum über Bereichsgrenzen hinweg eigene Lösungen gestalten zu können. Dies setzt eine enorme Motivation frei.
Welche Vorgehensweise kann man Verwaltungsverantwortlichen empfehlen, die sich mit Gedanken der Einführung solcher Anwendungen tragen?
Christian Küsters: Der erste Schritt ist, das Thema KI aus dem Schattendasein zu holen und offizielle Regelungen für den dienstlichen Gebrauch zu schaffen. Denn nur wenn klar ist, wie KI genutzt werden darf, kann sie auch sinnvoll in den Arbeitsalltag integriert werden.
Thorsten Rode: Ein weiterer Erfolgsfaktor sind Netzwerke: Viele Städte und Verwaltungen haben bereits wertvolle Erfahrungen gesammelt – wir selbst haben zum Beispiel einige Ansätze von der Stadt Wien als Vorreiter adaptiert. Niemand muss bei null anfangen, denn es gibt bereits viel Wissen, auf das man zurückgreifen kann. Genauso teilen auch wir unsere Learnings offen mit anderen, damit möglichst viele Verwaltungen von den gesammelten Erkenntnissen profitieren können. Trotzdem ist es wichtig, auf das eigene Bauchgefühl zu hören und einen individuellen Weg zu finden, der zur jeweiligen Verwaltung passt. Dieser Weg muss von der Führung aktiv getragen werden. Gleichzeitig braucht es einen offenen Geist in der Verwaltung, der Top-Down-Denken hinter sich lässt und Mitarbeitende von Betroffenen zu Beteiligten macht. Das bedeutet, Verantwortung und Gestaltungsspielräume nach unten zu verlagern und die Mitarbeitenden selbst Lösungen entwickeln zu lassen. Ein solcher Bottom-Up-Prozess muss bewusst eingeplant und gefördert werden – nur so kann sich der KI-Einsatz nachhaltig etablieren und zur echten Bereicherung für die Verwaltung werden.
Welche Rolle haben die Kommunalen Datenverarbeitungs- bzw. Rechenzentren?
Thorsten Rode: Kommunale Rechenzentren hosten in der Regel einen Großteil der Verwaltungsdaten – bei uns liegt das Verhältnis bei etwa 70:30 zwischen zentral gehosteten und lokalen Daten. Für eine
vollständige digitale Transformation ist es unerlässlich, dass nicht nur die lokalen Daten, sondern auch die in den Rechenzentren gespeicherten Informationen in KI-gestützte Prozesse integriert werden. Wir bauen aktuell unser eigenes Know-how aus, um besser zu verstehen, was mit KI möglich ist und wie wir diese Technologien gezielt einsetzen können. Doch langfristig brauchen wir einen Schulterschluss mit den Rechenzentren, denn nur gemeinsam lässt sich das volle Potenzial ausschöpfen. Einige Rechenzentren machen bereits erste Schritte in diese Richtung, aber um wirklich voranzukommen, wäre es sinnvoll, sich auf einen einheitlichen Rahmen oder eine gemeinsame technologische Basis zu verständigen. Wenn Verwaltungen und Rechenzentren ihre Entwicklungen stärker koordinieren und über eine Art digitalen Marktplatz austauschen, könnten Synergien entstehen, die allen zugutekommen. Ein solcher Ansatz würde nicht nur Zeit und Ressourcen sparen, sondern könnte die digitale Transformation auf kommunaler Ebene massiv beschleunigen – mit dem Potenzial für exponentielles Wachstum, wobei wir dabei nie unsere digitale Souveränität verlieren dürfen und auch die Möglichkeiten offenbleiben müssen, dass jeder eigene Lösungen entwickelt.
Christian Küsters: Rechenzentren sind gerade für die Kommunen von heterogener Größe essentiell, um Skaleneffekte zu erzielen. Sie sind Dienstleister und halten uns den Rücken frei – insbesondere
was das Thema Sicherheit angeht. Umgekehrt brauchen wir die Offenheit Innovationen einzelner für alle nutzbar zu machen.
Vielen Dank! (DEKOM, 17.02.2025) Mehr Infos hier…